Das Drama des grossen Krieges

Titel: Das Drama des großen Krieges
Autor: Dr. Lothar Schimmelpfennig
Inhalt: Der Artikel beschreibt die Umstände zum 1. Weltkrieg mit seinen Kontrahenten.
Seiten: 18
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Das Drama des Großen Krieges 1914 – 1918

Lloyd George, dem britischen Schatzkanzler des Jahres 1914, ist wohl die bekannteste Formulierung über den Beginn des Ersten Weltkrieges gelungen: “Hätte es in Deutschland einen Bismarck, in Großbritannien einen Palmerston, in Amerika einen Roosevelt oder in Paris einen Clemenceau an der Macht gegeben, dann hätte die Katastrophe vermieden werden können und wäre meiner Überzeugung nach vermieden worden. Aber in keinem der großen Staaten sah man einen Mann von dieser Qualität am Ruder … Keiner der führenden Männer jener Zeit hat den Krieg tatsächlich gewollt. Sie glitten gewissermaßen hinein, oder besser, sie taumelten oder stolperten hinein, vielleicht aus Torheit.“

SirDavidLloydGeorgeSir David Lloyd George, 1863 – 1945, Premierminister

Die eigentliche Frage bestand jedoch nicht darin, ob der Krieg wirklich von einem der Politiker offen gewollt wurde oder nicht. Die Frage ist, ob sie ihn gefürchtet haben, ob ihnen nicht das Festhalten an ihren politischen Zielen so wichtig schien, dass sie auch das Risiko eines Krieges einkalkulierten. Richtig ist an der Feststellung von Lloyd George, dass niemand den Krieg ausdrücklich gewünscht und willentlich herbeigeführt hat. Ebenso richtig aber ist, dass niemand etwas ausdrücklich gegen einen Krieg einzuwenden hatte. Damit sind die Grenzen abgesteckt, in denen sich praktisch jeder Kriegsgrund, jedes Motiv, jede Provokation, jede Anmaßung, jede „unerträgliche Verletzung der Staatsräson“ und alle Hybris unterbringen lässt. Der Präsident der Französischen Republik, Raymond Poincaré, kam am 29. Juli 1914 von einem Besuch in Russland zurück und wurde bei seiner Landung in Dünkirchen von dem Senator Trystram gefragt: „Herr Präsident, glauben Sie, dass man den Krieg abwenden kann?“ Poincaré erwiderte: „Dies zu tun, wäre sehr bedauerlich, denn wir werden niemals günstigere Umstände finden!“ Letztlich ist es aber gleichgültig, wie sich die Unverantwortlichkeiten, Missgriffe und Verantwortlichkeiten im einzelnen verteilen, gleichgültig jedenfalls gegenüber der offenbaren Unfähigkeit, die europäische Krise, die durch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo entstanden war, zu meistern – sofern es sich nicht anstatt um Unfähigkeit, um ein bewusstes Treiben lassen auf den Krieg hin handelte.

RaymondPoincareRaymond Poincaré, 1860 – 1934, Präsident der „Dritten Republik“

 Russlands Rüstung

In dem Jahrzehnt zwischen 1905, der Niederlage gegen Japan, und dem Kriegsausbruch hatte Russland pausenlos mit inneren Unruhen, Selbstvorwürfen, Reformversuchen und politischen
Ansprüchen zu tun, die einem hochgespannten Sendungsbewusstsein entsprangen. Mit am stärksten war eine Empfindlichkeit hinsichtlich der Selbsteinschätzung ausgeprägt, die sich bei den führenden Politikern genauso fand wie in der Öffentlichkeit oder bei dem Zaren. Nach dem Zusammenbruch der Expansionspolitik im Fernen Osten richtete Russland sein Augenmerk wieder auf den europäischen Südostraum. Das Leitziel war offenkundig die Bemühung, den russischen Ansprüchen in der Frage der Dardanellen einen soliden Boden zu verschaffen. Im Balkankrieg von 1912, in dem Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland gegen die Türkei kämpften und in dem Krieg von 1913 – Serbien, Griechenland, Rumänien und die Türkei gegen Bulgarien – waren die beiden Hauptinteressenten Österreich-Ungarn und Russland militärisch nicht beteiligt, dafür jedoch um so kräftiger ab der Vorbereitung, ab der diplomatischen Absicherung und ab der
öffentlichen Parteinahme. Russland feierte alles, was in den Balkankriegen im Sinne seines eigenen Zuschauerengagements geschah, als einen Triumph des Slawentums, und zwar so überschwänglich, dass die Überzeugung durchschimmerte, es würde sich im Grunde um russische Triumphe handeln. Die Frontstellung gegen das Deutsche Reich und gegen Österreich wurde nicht verheimlicht. Die Abneigung gegen beide Staaten wurde noch durch den Umstand unterstützt, dass die türkische Armee mit deutschen Waffen ausgerüstet war und es sich bei den Instrukteuren um deutsche Offiziere handelte. Das Hauptziel Russlands auf dem Balkan blieb nach wie vor die Zurückdrängung der Türkei und die Verfügungsgewalt über die Meerengen, ein Ziel, das im übrigen durch die beschleunigte Industrialisierung Südrusslands noch an Dringlichkeit gewonnen hatte.

ZarNikolausIIZar Nikolaus II., 1868 – 1918

Die klare Rückendeckung der österreichischen Balkanpolitik durch Berlin reizte die russischen Empfindsamkeiten aufs äußerste. Kein Schlagwort wurde in der Presse Russlands und Polens vor 1914 häufiger wiederholt als der angebliche, mythisch hochgespielte deutsche Drang nach dem Osten. Der deutschen Politik wurde als Grundtendenz unterlegt, Russland aus Europa hinausdrängen zu wollen. Dass auch die französischen Medien das Thema variantenreich durchspielten, wirkte in Russland als zusätzliche Bestätigung dieser Ansicht.

Außenminister Iswolskij war es nach dem Krieg mit Japan gelungen, unter die russische Asienpolitik einen Schlussstrich zu ziehen und sich mit Großbritannien in einer Form zu arrangieren, die auf Jahre einen spannungslosen Zustand gewährleistete. Der englischrussische Vertrag vom 31. August 1907 legte alle Streitfragen bezüglich Persiens, Afghanistans und Tibets bei. Russland erhielt den Nordosten Persiens mit Teheran, England den Süden mit seinen Ölquellen und Häfen. Russland erkannte Afghanistan als britisches Interessengebiet an, und diese Konzession wurde von England mit der Zusage honoriert, sich aus Tibet zurückzuziehen.

Iswolskij versuchte im darauffolgenden Jahr, den Aktivitäten Österreich-Ungarns im Balkanraum ein russisches Gegengewicht durch die Forderung nach einer Revision des Meerengenstatus zu schaffen. Die Dardanellen sollten endlich russischen Schiffen geöffnet werden. Der Versuch scheiterte. Im selben Jahr 1908 hatte Wien in aller Form Bosnien und die Herzegowina annektiert. In geheim gehaltenen Gesprächen mit dem österreichischen Außenminister Ährental hatte Iswolskij dieser Absicht zugestimmt; Ährental sagte ihm dafür seine Unterstützung in der Dardanellenfrage zu. Die Annexion weckte in Europa überall Empörung. Iswolskij konnte deshalb nicht öffentlich von den Geheimvereinbarungen sprechen, – und so blieb von der aktiven Meerengenpolitik Russlands nichts weiter übrig als der Rücktritt Iswolskijs. Weil Deutschland dabei seine Bündnistreue über alle Bedenken hinsichtlich der österreichischen Politik stellte, setzte sich als russische Reaktion auf das Dardanellen-Fiasko die zornige Parole durch: „Der Weg nach Konstantinopel führt über Berlin!“

Bei dieser Gelegenheit wurde an die russische Situation im Krieg gegen Japan erinnert und dem deutschen Kaiser erneut vorgeworfen, er hätte die Konfliktbereitschaft des Zaren angestachelt, obgleich er überzeugt gewesen sei, dass Russland einer Niederlage entgegengehe. Allgemein wurde die deutsche Außenpolitik vehement kritisiert als eine „Diplomatie der massiven Drohungen“. Zu Recht wurde im selben Atemzug darauf aufmerksam gemacht, dass man sich nicht über die Stärke der russischen Armee und Marine hinwegtäuschen sollte.

Nach Port Arthur und Tsushima besaß Russland praktisch keine kampffähigen Seestreitkräfte. Was vor dem Krieg mit Japan aus dem Ausland bestellt und auf eigenen Werften in Bau war, wurde erst ab 1909 in Dienst gestellt. Im Jahr 1910 erhielt die Duma, die Volksvertretung, ein 10-Jahres-Bauprogramm vorgelegt, genehmigte es aber nur mit erheblichen Abstrichen. Zu einer Wende in der Marinepolitik kam es erst 1912, als Marineminister Admiral Grigorowitsch die Zustimmung für eine Flottenvorlage gewann, mit deren Hilfe – spätere Ergänzungen eingeschlossen – ein Bestand von 25 Schlachtschiffen, 12 Panzerkreuzern, 24 geschützten Kreuzern, 4 Kreuzern, 116 Zerstörern, 18 Torpedobooten und 54 U-Booten erreicht werden sollte. Dieser Griff in die Zukunft – man rechnete für die Durchführung mit rund 15 Jahren – setzte eine durchgehende Modernisierung und weitestgehende Unterstützung durch ausländisches Kapital voraus, vor allem aber auch eine entsprechende Energie bei der Realisierung. Immerhin gelang es der Flottenführung, die russische Marine im Jahr 1914 in eine Verfassung zu bringen, die mit der Lage im russisch-japanischen Krieg nichts mehr zu tun hatte.

Dasselbe galt für die russische Armee. Kriegsminister Suchomlinow erklärte 1913 wiederholt und in aller Öffentlichkeit, dass Russland ebenso wehr- wie kriegsbereit sei, eine Versicherung, die sich auch an die Adresse von Paris richtete. Frankreich hatte sich mehrfach skeptisch über den Zustand der russischen Armee geäußert und den Bündnispartner daran erinnert, dass er sich vertraglich zur Aufmarschbereitschaft verpflichtet habe.

Kriegsminister Suchomlinow warf in der ersten Junihälfte 1914 den Ball zurück, als über die französische Heeresvorlage von 1913 zur Verstärkung der Armee entschieden werden sollte. Er ließ in einem offiziösen Blatt einen Artikel erscheinen: „Russland wird sich keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates erlauben. Aber es kann während einer Krise des befreundeten und verbündeten Staates nicht teilnahmsloser Zuschauer bleiben. Wenn das französische Parlament sich berechtigt fühlt, auf innere Angelegenheiten Russlands, wie Kriegsbestellungen, hinzuweisen, die mit gewissen ökonomischen Vorteilen für die Auftraggeber verbunden sind, so kann Russland nicht gleichgültig gegenüber einer rein politischen Frage, nämlich der dreijährigen Dienstzeit, bleiben, die den Gegenstand eines Zerwürfnisses zwischen den Parteien des französischen Parlaments bildet. Für Russland gibt es in dieser Frage keine geteilte Meinung. Russland tat alles, wozu es das Bündnis mit Frankreich verpflichtete; es erwartet folglich, dass ein Verbündeter ebenfalls seine Pflicht tue. Es ist allgemein bekannt, welche kolossalen Opfer Russland gebracht hat, um das französische Bündnis auf eine ideale Höhe zu bringen. Die Reformen des russischen Militärressorts bei der Bildung der russischen Streitkräfte übertreffen alles in dieser Hinsicht Dagewesene. Das diesjährige Rekrutenkontingent ist nach dem letzten Allerhöchsten Ukas von 450.000 auf 580.000 Mann gestiegen und die Dienstzeit um sechs Monate verlängert worden. Dank dieser Maßregel stehen jeden Winter in Russland vier Kontingente Rekruten unter Waffen, also eine Armee von 2.300.000 Mann. Diesen Luxus kann sich nur das große, mächtige Russland erlauben. Deutschland verfügt über 880.000, Österreich über etwa 500.000 und Italien über 400.000 Mann. Ganz natürlich also, dass Russland von Frankreich 770.000 Mann erwartet, was nur bei der dreijährigen Dienstzeit möglich ist. Es muss bemerkt werden, dass diese Vergrößerung der Armeen in Friedenszeiten ausschließlich eine schnelle Mobilisierung erwirken soll. Russland schreitet dabei noch zu neuen Reformen, zum Bau eines ganzen Netzes strategischer Bahnen, zur schleunigsten Konzentration der Armee im Kriegsfall. Das wünscht Russland auch von Frankreich, doch kann es das alles nur durchführen bei Wahrung der dreijährigen Dienstzeit. Russland und Frankreich wünschen keinen Krieg, aber Russland ist fertig, und Frankreich muß es auch sein.“

 Iswolskijs Nachfolger Sasonow fühlte sich dazu gedrängt, das Fiasko seines Vorgängers rasch wie möglich vergessen zu lassen. Ihm lag die expansive Außenpolitik, die Iswolskij getrieben hatte, gleichfalls am Herzen und so konnte er sich in Paris keinen besseren Repräsentanten Russlands denken als Iswolskij. Er wurde als Botschafter nach Frankreich geschickt. In den Jahren 1912 und 1913 bemühte sich Iswolskij erfolgreich, mit Frankreich und England eine „Triple-Entente“ herzustellen. Als Krönung der militärischen Kontinentalabsprachen mit seinen Partnern durfte er die französisch-russische Marinekonvention vom Juli 1912 ansehen, die eine Zusammenarbeit der Seestreitkräfte auch im Gebiet der Ostsee vorsah.

Sasonow mochte von der „unumstößlichen Gewissheit des unvermeidlichen Zusammenstoßes zwischen Germanentum und Slawentum“ erfüllt gewesen sein, wie er später schrieb. Doch wäre es überzogen, daraus mehr abzuleiten als einen allgemein herrschenden Kriegswillen ohne zeitliche Festlegung. Sasanows Überzeugung wurde von großen Teilen der deutschen Abgeordneten und der Öffentlichkeit geteilt. Reichskanzler Bethmann Hollweg griff die Formel sogar bei der Wehrvorlage vom 13. April 1913 im Reichstag wörtlich auf. Er sprach von der Möglichkeit einer europäischen Konfliktsituation, „die Slawen und Germanen einander gegenüberstellt“. Allerdings wollte er nichts mit dem grassierenden Wort von einer drohenden slawischen Gefahr zu tun haben: „Ich sage nicht, dass der Zusammenstoß zwischen Slawen und Germanen unvermeidlich sei, leider behaupten das manche Publizisten. Das ist ein gefährliches Untenehmen. Solche Thesen wirken durch Schlagworte suggestiv und düngen den Boden, auf dem missleitete Volksleidenschaften sich bewegen.“

Zweifellos wäre es taktvoller gewesen, derartige Wendungen überhaupt nicht zu gebrauchen, doch der Konjunktiv nach Eintritt des Geschehens ist nichts anderes als ein Imperativ des historischen Besserwissertums. Was die Furcht vor einer möglichen Angriffsabsicht der im Dreibund zusammengeschlossenen Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien war, das war für Wien und Berlin die Sorge vor einer Einkreisung durch West und Ost, dieser Anakonda-Methode einer Außenpolitik des Abwürgens. Kurz vor Kriegsausbruch lieferte der russische Historiker Petrofanow eine der maßvollsten Beurteilungen der explosiven Lage: „Wir wünschen in keiner Weise, Deutschland anzugreifen, wir hegen eine zu große Bewunderung für die deutsche Zivilisation und für die Verdienste des deutschen Volkes in der Weltgeschichte, um uns einen Attila-Sieg zu wünschen. Wir sind vollkommen überzeugt, dass Deutschland fern davon ist, direkte aggressive Tendenzen zu haben; aber wir fühlen uns von allen Seiten, von den Flanken in der Türkei, in Schweden, in Österreich und durch den deutschen Drang eingeengt und gesperrt, wir finden keine Anerkennung unserer jetzigen Lage, kein Rechnen mit unserer jetzigen Stärke, und wir sind entschlossen, die uns gebührende Stelle uns zu verschaffen.“ Dass sich dieser Text wortwörtlich auch in einer deutschen Lagebeurteilung finden könnte, stimmt geradezu melancholisch.

 Die russische Rüstung richtete sich unmittelbar gegen Deutschland und Österreich-Ungarn, genauso wie die Militärkonvention mit Frankreich. Doch die Einsichtigen in Russland wussten, dass das Land noch auf eine lange Zeit des Friedens angewiesen war, um mit seinen inneren Problemen fertig zu werden: von der sozialen Situation bis zur Agrarstruktur und den Industrialisierungs- und Verkehrsproblemen. War der mögliche Kriegsfall deshalb weniger ein kurzfristiges Problem, war es möglicherweise nicht auch gerade deshalb eine Hoffnung? Gegenüber allen Spekulationen über die Kriegsziele, die während eines Konflikts in Blüte sind, muss erneut mit Nachdruck auf die Vorbehalte dagegen verwiesen werden, die sich aus der Situation ergeben. Trotzdem ist die Erklärung des Zaren bemerkenswert, die am 21.November 1914 der französische Botschafter Maurice Paléologue zu hören bekam: „Vor allem in Deutschland werden große Veränderungen geschehen müssen. Wie ich Ihnen gesagt habe, wird Russland die Gebiete des alten Polen annektieren sowie einen Teil von Ostpreußen. Frankreich wird sich zweifellos Elsass-Lothringen zurückholen und sich vielleicht auf die Rheinprovinz ausdehnen. Belgien muss in Richtung Aachen einen erheblichen Landzuwachs bekommen. Die deutschen Kolonien werden Frankreich und
England nach Belieben unter sich teilen. Ich wünsche außerdem, dass Schleswig-Holstein und die Zone des Kaiser-Wilhelm-Kanals an Dänemark zurückgegeben wird … Und Hannover? Wenn wir einen kleinen freien Staat zwischen Preußen und den Westen einschieben, werden wir den Frieden wesentlich stärken. Das gerade muss unser Leitgedanke sein, für eine sehr lange Zeit den Frieden der Welt zu sichern.“ Die Grundtendenz, Deutschland entscheidend zu schwächen bis zur Amputation, deckte sich völlig mit den Absichten der anderen Alliierten und sollte bei den hektisch erörterten Kriegszielspekulationen des Deutschen Reiches nicht beiseite gelassen werden.

KaiserWilhelmIIKaiser Wilhelm II.

Der Mord von Sarajewo

Dass Deutschland in einem Krieg den französischen Nachbarn als Hauptgegner haben würde, darüber gab es seit dem Krieg 1870/71 keine Zweifel. Wenn Churchill in seinem Rückblick aus dem Jahr 1934 die russischen Aktivitäten vor 1914 in den Vordergrund schob, so meinte er damit zwangsläufig auch dieselben Bemühungen Frankreichs. Der Revanchegedanke war ein unerschütterlicher Richtpfeil der französischen Außenpolitik. Frankreich führte im Jahr 1913 während der kurzen Amtszeit von Ministerpräsident Louis Barthou die dreijährige Dienstzeit ein, Deutschland und Russland stellten neue Heeresverbände auf, und England hatte in den letzten Jahren sein Armeewesen so reformiert, dass es im Kriegsfall in der Lage war, in kürzester Zeit große Truppenkontingente einzusetzen.

Befand sich England nur in einer passiven Rolle?

Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28.Juni 1914 im bosnischen Sarajewo durch junge Bosnier lief die Bündnismechanik in der Form ab, wie sie geplant war. Doch vergingen bis zur ersten Kriegserklärung immerhin gut vier Wochen. Österreich-Ungarn ließ zwar erst am 23. Juli in Belgrad ein Ultimatum überreichen, aber die dazwischen liegende Zeit wurde keineswegs zum ernsthaften Glätten der Wogen benützt.

In Wien war man entschlossen, auf das Attentat mit derjenigen Härte zu reagieren, die alleine angemessen schien. Die Politiker in Belgrad träumten von einem großserbischen Reich. Alle ihre Pläne mussten deshalb das Ziel haben, Österreich-Ungarn Gebietsteile zu entreißen und notfalls den ganzen Staat zu zerschlagen. Der französische Schriftsteller Lémonon charakterisierte die Rolle dieses kleinen Staates in den Planungen Frankreichs zutreffend, als er 1909 forderte, dass Serbien „zu einem Dolch in Österreichs Flanke gemacht werden muss“. Die Regierung in Wien machte Belgrad für den Mord voll verantwortlich. Kaiser Franz Joseph schrieb am 5. Juli an Kaiser Wilhelm II. über die Maßnahmen, die beabsichtigt waren, und betonte, dass Österreich-Ungarn jetzt daranginge, „Serbien als politischen Machtfaktor auszuschalten“ und bat darum, die geplanten Aktionen zu unterstützen. Der deutsche Kaiser antwortete am 14. Juli, er verkenne keineswegs den Ernst der Lage, sei aber überzeugt, dass Russland den Meuchelmördern helfen werde. Er ließ sich dabei von seinem Vertrauen zu der monarchischen Solidarität aller Fürsten, die eine Krone trugen, täuschen. Abschließend versicherte er dem österreichischen Kaiser, dass er in zuverlässiger Bündnistreue zu der Politik stehen werde, zu der sich Österreich-Ungarn in dieser Angelegenheit entschließe, welcher Art diese auch immer sein würde.

Über diesen Freibrief und Blankoscheck des Kaisers ist später viel gelästert worden: Berlin hätte wissen müssen, dass damit ein Spiel begann, das in einer Katastrophe enden musste, wenn nicht höchste Behutsamkeit das oberste Gebot blieb. Kalkulierte man aber bei dem Vorwurf, die deutsche Regierung hätte mit harter Hand die Wiener Haltung unterstützt, anstatt zur Mäßigung zu raten, auch die Entschlossenheit der Serben und die Zufriedenheit der russischen Regierung ein? Die serbischen Zeitungen hoben die Mörder als nationale Helden in den Himmel des Slawentums. Solche Lobpreisungen hätten Wien nicht irritieren müssen, denn es kam bei der ganzen Verwicklung allein darauf an, wie sich die russische Regierung verhielt. Doch auch darüber konnte es kaum Unklarheiten geben. Gleichgültig, was in den Balkanstaaten geschah: Russland war auf die Bundesgenossenschaft im europäischen Südosten noch weit mehr festgelegt als Deutschland auf seine Vertrags- und Nibelungentreue gegenüber Österreich. Wenn Russland jetzt Serbien im Stich ließ, war dies ein Signal für den ganzen Balkan und musste den stärksten Rückschlag für die Dardanellenpolitik Petersburgs bedeuten. Für die Lösung des Meerengenproblems im Sinne Russlands war jede Politik und jede Handlung zu verwerfen, die sich nicht gegen die Balkaninteressen der Habsburger Monarchie richtete.

In diesen so entscheidenden Tagen war der französische Präsident Poincaré in Petersburg zu Besuch. Der russische Außenminister hatte den österreichischen Botschafter mit allem Nachdruck vor der Absicht der Wiener Regierung gewarnt, von Belgrad zu verlangen, dass Österreich sich an der Untersuchung der Hintergründe des Mordes mit eigenen Beamten beteiligte. Dies müsse als Angriff auf die Souveränität Serbiens betrachtet werden und sei ein überaus gefährlicher Weg.

Sasonow und Poincaré beschlossen, gemeinsam zu versuchen, die Regierung in Wien von einer Beteiligung österreichischer Behörden an der Aufklärung des Mordes abzuhalten. Sie fühlten sich sogar zu der Versicherung gedrängt, dies sei die beste Gelegenheit, „den Stolz Deutschlands um jeden Preis zu brechen und ihm ein für allemal zu verwehren, auf die Zehen seiner Nachbarn zu treten“. Der französische Präsident beschwor vor der Abreise seinen Botschafter, dafür zu sorgen, dass Außenminister Sasonow nicht wankelmütig werde. So gering die Wahrscheinlichkeit auch war, so sorgenvoll stimmte sie trotzdem Poincaré. Aber Russlands Botschafter in Paris, Iswolskij, verabschiedete sich kurz darauf von seinem französischen Kollegen mit einem zuversichtlichen: „Diesmal ist es der Krieg!“

SergejDmitrijewitschSasonowSergej Dmitrijewitsch Sasonow, 1860 – 1927
russsicher Außenminister

Das Ultimatum Österreichs, das am Abend des 23. Juli überreicht wurde, war hart. Doch die einzelnen Forderungen waren berechtigt. Aus dem Schriftstück ragten zwei Forderungen heraus:

  1. Österreich verlangte, an den Untersuchungen des Attentats mit eigenen Beamten teilzunehmen.
  2. Österreich wollte von jetzt ab offiziell an den Bemühungen, jede Propaganda in Serbien für die Abtretung der südslawischen Gebiete von Österreich-Ungarn zu unterdrücken, teilnehmen.

Zu einer solchen Unterdrückung hatte sich Serbien wiederholt verpflichtet, ohne das geringste zu unternehmen. Als Kaiser Franz Joseph den Text des Ultimatums gelesen hatte, genehmigte er den Wortlaut, fügte jedoch hinzu: „Das wird Russland nicht hinnehmen, es gibt einen großen Krieg.“

Der Kaiser hatte recht. Doch er konnte nicht wissen, warum. Nach außen hin spielte Russland den Hüter und Schützer der Souveränität des Staates Serbien, obgleich das österreichische Ultimatum durchaus nichts verlangte, was völkerrechtlich unzulässig gewesen wäre. Doch Russland war in die Vorgeschichte des Attentats genauso tief verstrickt wie Serbien.

Das serbische Kabinett war gegen Ende Mai 1914 über den geplanten Mord informiert!

Es hätte die österreichische Regierung sofort verständigen müssen. Das aber war unmöglich, weil der Chef der Nachrichtenabteilung im serbischen Generalstab, Dragutin Dimitrijewitsch, das ganze Komplott entworfen hatte. Der serbische Ministerpräsident Pasitsch hatte die Verschwörung unterstützt. In Belgrad arbeitete Dimitrijewitsch bei der Vorbereitung des Attentats eng mit dem russischen Militärattaché Artamonow zusammen, auch der russische Gesandte in Belgrad, N. von Hartwig, gehörte zu den Eingeweihten, ja selbst der serbische König Peter I. und der Kronprinz waren vollständig im Bild. Russlands Botschafter in Paris erhielt unmittelbar nach dem geglückten Attentat durch einen Boten des serbischen Königs die Mitteilung: „Wir haben soeben ein gutes Stück Arbeit verrichtet.“ Ausgebildet wurden die Attentäter von dem Geheimbund „Schwarze Hand“, der die großserbische Bewegung führte.

KönigPeterIKönig Peter I. von Serbien, 1844 – 1921

Diese Details waren den Regierungen in Wien und Berlin unbekannt. Doch erst sie erklären, warum weder Belgrad noch die russische Regierung dem österreichischen Ultimatum nachgeben konnten. Die ganze Welt hätte sich über diese Zusammenhänge empört, niemand hätte gegen österreichische Repressalien etwas einzuwenden gehabt. Das war nicht aus den ersten Reaktionen des Abscheus und des Entsetzens herauszulesen gewesen, die der Mord von Sarajewo in Europa auslöste.

Das Ultimatum war auf 48 Stunden befristet. Ministerpräsident Pasitsch erklärte, dass Serbien alleine zu einem Widerstand nicht in der Lage sei und deshalb Petersburg entscheiden müsse. Persönlich glaubte er nicht an die Hilfe Russlands, Serbien würde wohl das Ultimatum annehmen müssen. Russland aber, das hieß in diesen Tagen: Außenminister Sasonow. Und Sasonow kannte als oberstes politisches Ziel nur die Dardanellen. Serbien selbst ließ in kühl. Noch zwei Jahre zuvor, vor den Balkankriegen, hatte er gemeint, es sei Serbiens natürliches Schicksal, von Österreich aufgehängt zu werden. Erst nach dem Sieg über die Türken schätzte er die Balkanstaaten als Partner ein, deren Soldaten weit mehr zählten als ihre verworrenen politischen Wünsche.

Sasonows Ansicht deckte sich mit der Auffassung des Zaren. Nikolaus II. hatte im Februar 1914 den serbischen Ministerpräsidenten empfangen. Pasitsch drückte seine größte Bewunderung für die so überaus machtvolle russische Rüstung aus und bat um die Lieferung von 120.000 Gewehren, um Munition und Geschütze. Der Zar erkundigte sich, wie viel serbische Soldaten denn bei einem Kriegsfall ins Feld rücken würden. Pasitsch antwortete:
„Eine halbe Million!“ Nikolaus lächelte erfreut: „Das ist genug, das ist keine Kleinigkeit, damit kann man weit kommen!“ Beim Abschied versicherte er Pasitsch: „Für Serbien werden wir alles tun. Grüßen Sie den König und sagen Sie ihm das. Für Serbien werden wir alles tun!“

Für Serbien unternahm der russische Kronrat bei seiner Sitzung in Krasnoje Selo im Süden von Petersburg weit mehr, als Belgrad zu hoffen gewagt hatte. Er entschied, „Serbien zu unterstützen, auch wenn dazu die Mobilmachung erklärt werden und Russland Kriegshandlungen beginnen müsse“, falls Österreich sich entschließe, gegen Serbien vorzugehen. Gleichzeitig ergingen die Anweisungen zur Vorbereitung der Mobilmachung. Als der britische Botschafter den russischen Außenminister darauf hinwies, dass Deutschland auf eine russische Mobilmachung mit der Kriegserklärung reagieren werde, erklärte Sasonow, Russland sei entschlossen, Österreich auf dem Balkan nicht zur Vormacht aufrücken zu lassen. Im übrigen könne sich Petersburg auf sein Bündnis mit Paris verlassen und deshalb leicht das Risiko eines großen Krieges eingehen. Beeindruckt telegrafierte der Botschafter nach London: Wenn die britische Regierung sich nicht entschließe, in dieser Sache an die Seite Russlands zu treten, müsse Russland „auf die freundschaftliche Zusammenarbeit in Asien verzichten“. Deutlicher hätte der Hinweis auf den russisch-englischen Ausgleich des Jahres 1907 nicht sein können.

Die Entscheidung des russischen Ministerrats wirkte in Belgrad ebenso überraschend wie befreiend. Die Regierung lehnte das österreichische Ultimatum ab und ordnete die Mobilmachung an. Daraufhin erklärte die Wiener Regierung Serbien den Krieg. Vermittlungsversuche Berlins und Londons misslangen! Am 30. Juli erklärte Russland die Generalmobilmachung. Die deutsche Regierung forderte am nächsten Tag die Zurücknahme der Anordnung. Gleichzeitig stellte sie Frankreich ein Ultimatum: Paris sollte innerhalb von 18 Stunden die Frage beantworten, ob Frankreich im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Russland neutral bleibe.

Englands Entschluss

In Paris war am Abend des 31. Juli der Ministerrat zusammengetreten und beriet die Lage. Nach Mitternacht, in der ersten Stunde des 1. August, sandte der russische Botschafter Iswolskij seinem Außenminister eine Depesche: „Der französische Kriegsminister eröffnete mir in einem gehobenem herzlichen Ton, dass die Regierung fest zum Krieg entschlossen sei, und bat mich, die Erwartung des französischen Generalstabes, dass alle unseren Anstrengungen gegen Deutschland gerichtet sein werden und Österreich als eine quantité négligeable behandelt wird, zu bekräftigen.“

Die deutsche Forderung nach Zurücknahme der Generalmobilmachung wurde von Petersburg abgelehnt. Im Grund handelte es sich trotz aller Dramatik nur um Formalitäten. General Sergej Dobrorolskij, der Chef der russischen Mobilmachungsabteilung im Generalstab, hatte später festgestellt, dass der Beginn des Krieges eindeutig mit der Mobilmachung angesetzt werden muß. Die russische Armeeführung sei sich über diese Tatsache absolut im Klaren gewesen. Dobrorolskij schrieb über die endgültige Order zur Mobilmachung: „Wenn das einmal festgelegt ist, gibt es keinen Weg zurück. Ein solcher Schritt besiegelt automatisch den Beginn eines Krieges. Die Sache hatte unweigerlich begonnen, sie war bereits in allen größeren Städten unseres unermesslichen Vaterlandes bekannt. Eine Abänderung war nicht möglich. Der Prolog des großen historischen Dramas hatte begonnen.“

Die Meinung, dass derjenige der Angreifer ist, der den Krieg erklärt, ignoriert die Wirklichkeit und wird mit Vorliebe von Politikern vertreten, die eine andere Sicht der Wirklichkeit benötigen. Dazu hatte schon der Staatsphilosoph Montesquieu im 18.Jahrhundert festgestellt, dass es nicht auf denjenigen ankomme, der den Krieg beginne, sondern auf den, der ihn unvermeidlich mache. Das Thema begann seine eigentliche Rolle im 20. Jahrhundert erst mit den Schuldzuweisungen nach dem Ersten Weltkrieg zu spielen, nach der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns, insbesondere beim Text des Friedensdiktats von Versailles.

Im Artikel 231, mit dem der Teil über die Wiedergutmachung eröffnet wurde, musste Deutschland anerkennen, dass es zusammen mit seinen Verbündeten als Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich sei, weil es sich um einen von Deutschland aufgezwungenen Krieg gehandelt habe!

So konnten die Alliierten erst nach dem Sieg argumentieren. Der Inhalt des Artikels ist heute nicht mehr ernst zu nehmen. Wichtig allein ist sein Alibicharakter, insbesondere was Russland und Frankreich betrifft. In der Militärkonvention zwischen Russland und Frankreich, die im Jahr 1893 in Kraft trat, wird ausdrücklich bestimmt, dass derjenige Staat, der als erster die Mobilmachung anordnet, auch der Angreifer sei. Sollte Russland das vergessen haben?

Als die Absage aus Petersburg in Berlin eintraf, erklärte Deutschland am 1. August 1914 den Krieg. Es erklärte ihn, ohne etwas von der Versicherung der französischen Regierung zu wissen, dass Frankreich „fest zum Krieg entschlossen“ sei. Auf die deutsche Frage wegen der Neutralität reagierte Paris ausweichend, ordnete aber gleichfalls die Mobilmachung an. Daraufhin erklärte Deutschland am 3. August 1914 Frankreich den Krieg.

 Der deutsche Operationsplan sah den Durchmarsch durch Belgien vor, um von Norden aus die französische Armee zu umfassen. Verhandlungen mit der belgischen Regierung, den Durchmarsch gegen eine Entschädigung zu gestatten, führten zu keinem Ergebnis. England nahm die Verletzung der belgischen Neutralität zum Anlass, seinerseits Deutschland den Krieg zu erklären.

Hatte England wirklich nur wegen der Verletzung der belgischen Neutralität den Entschluss gefasst, wie Außenminister Sir Edward Grey am 3. August vor dem Unterhaus so beredt versicherte? Am Vormittag des 1. August wurde Grey von dem französischen Botschafter Paul Cambon noch einmal die entscheidende Frage gestellt: ob England entsprechend der Marinekonvention von 1912 und den Vereinbarungen der Generalstäbe aus den letzten Jahren bereit sei, sofort in den Krieg einzutreten. Grey konnte die Frage nur mit einem Nein beantworten, denn am selben Vormittag hatte die Mehrheit des Kabinetts – die Konvention bestand aus Geheimabsprachen, von denen nur einige Mitglieder der Regierung etwas wussten! – die Teilnahme Englands am Krieg abgelehnt! Grey meinte: Deutschland sei bereit, von einem Angriff auf Frankreich abzusehen, wenn sich Frankreich in einem Krieg zwischen Deutschland und Russland neutral verhalte. Dies freilich scheine für Frankreich kein Gewinn zu sein, da es sich durch seinen Vertrag mit Russland gebunden hätte. An diesem Vertrag jedoch sei England nicht beteiligt.

SirEdwardGreySir Edward Grey, 1862 – 1933, Außenminister

Cambon war entsetzt: Er könne unmöglich seiner Regierung diese Antwort übermitteln. Ob es ihm gestattet sei, nach Paris zu melden, dass das britische Kabinett noch keine Entscheidung getroffen hätte? Grey schüttelte den Kopf: Im Gegenteil, das Kabinett habe eine Entscheidung getroffen, und zwar, dass es in diesem Moment nicht in der Lage sei, dem Parlament vorzuschlagen, eine Expeditionsarmee nach Frankreich zu schicken: „Frankreich muss in diesem Augenblick seine eigene Entscheidung treffen, ohne auf einen Beistand zu rechnen, den zu gewähren man in einem solchen Augenblick nicht in der Lage sei.“ Grey geht ins Kabinett zurück. Cambon zittert, sein Gesicht ist bleich: „Sie werden uns im Stich lassen, sie werden uns im Stich lassen!“

Wenig später empfängt Grey den deutschen Botschafter Lichnowsky. Er bietet Grey eine Garantie der belgischen Neutralität an, er bietet selbst die Integrität Frankreichs und seiner Kolonien an. Grey ringt sich die Antwort ab: Er fühle sich genötigt, endgültig jedes Versprechen, dass England unter derartigen Bedingungen neutral bleibe, abzulehnen.

Abends um 19 Uhr erhält der britische Premierminister die telegrafische Nachricht, dass Deutschland die Kriegserklärung an Russland formell übergeben habe. Grey befindet sich mit einigen der zum Krieg entschlossenen Kabinettsmitglieder bei Premier Asquith. Churchill kommt hinzu. Vormittags hatte er im Kabinett um die Ermächtigung zur Mobilmachung der Flotte gebeten.

Das Kabinett hatte nach einer heftigen Diskussion abgelehnt.

Jetzt erklärte Churchill, er werde nunmehr auf eigene Verantwortung, sofort und entgegen dem Kabinettsbeschluss den Mobilmachungsbefehl an die Flotte ausgeben lassen, also sämtliche Marinereserven einberufen und die Einheiten in den Kriegsstand überführen. Niemand widerspricht ihm, er verlässt das Zimmer und wird von Grey hinausbegleitet, der ihm sagt: „Ich habe Cambon erklärt, dass wir der deutschen Flotte nicht erlauben werden, in den Kanal einzudringen.“

Auch für eine solche Erklärung lag kein Kabinettsbeschluss vor. Grey hatte damit von sich aus die Marinekonvention in Kraft gesetzt, also praktisch den Kriegszustand mit Deutschland legalisiert. Bleibt nur die theoretische Frage, in welcher Form England seine Kriegserklärung, die beschlossene Sache war, motiviert hätte, wenn die belgische Neutralität nicht verletzt worden wäre.

Auch der emotionsloseste Versuch, anhand der bloßen Datenfolge dasjenige sichtbar zu machen, was als vorgebliche Bündnismechanik sowohl den Zwang zum Kriegseintritt erkennen lässt, als auch die vielen Momente der Willkür und des Betruges, der Verblendung und des Jubels, muss scheitern. Kaiser Wilhelm gab am 30. Juli in hoher Erregung eine ausführliche Situationsschilderung, in der sich nicht nur seine persönliche oder die rein deutsche Sicht spiegelt. Graf Pourtalès, der deutsche Botschafter in Petersburg, hatte ihm soeben telegrafiert, dass Russland darauf beharre, die Mobilmachung durchzuführen. Der Kaiser sah in diesem Entschluss vor allem die Schwäche des Zaren, der nach seiner Überzeugung einfach unfähig war, sich gegen seine Minister durchzusetzen und die Mobilmachung zu stoppen, obwohl dies durchaus noch möglich gewesen wäre:

„Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands schließlich abzielt. Denn das lässt jetzt für mich keine Zweifel mehr zu: England, Russland und Frankreich haben sich verabredet – unter Zugrundelegung des casus foederis für uns Österreich gegenüber -, den österreichisch-serbischen Konflikt zum Vorwand nehmend, gegen uns den Vernichtungskrieg zu führen. Daher Greys zynische Bemerkung an Lichnowsky, solange der Krieg auf Russland und Österreich beschränkt bleibe, würde England stillsitzen, erst wenn wir uns und Frankreich hineinmischten, würde er gezwungen sein, aktiv gegen uns zu werden’. Das heißt entweder, wir sollen unseren Bundesgenossen schnöde verraten und Russland preisgeben – damit den Dreibund sprengen oder für unsere Bundestreue von der Triple-Entente gemeinsam überfallen und bestraft werden, wobei ihrem Neid endlich Befriedigung wird, uns gemeinsam total zu ruinieren. Das ist in nuce die wahre nackte Situation, die langsam und sicher durch Edward VII. eingefädelt, fortgeführt, durch abgeleugnete Besprechungen Englands mit Paris und Petersburg, systematisch ausgebaut; schließlich wird durch Georg V. zum Abschluss gebracht und ins Werk gesetzt wird. Dabei wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit unseres Verbündeten zum Fallstrick gemacht. Also die berühmte „Einkreisung“ Deutschlands ist nun doch zur vollsten Tatsache geworden, trotz aller Versuche unserer Politiker und Diplomaten, sie zu verhindern. Das Netz ist uns plötzlich über den Kopf zugezogen, und hohnlächelnd hat England den glänzendsten Erfolg seiner beharrlich durchgeführten puren anti-deutschen Weltpolitik, gegen den wir uns machtlos erwiesen haben, indem es uns isoliert im Netze
zappelnd aus unserer Bündnistreue zu Österreich den Strick zu unserer politischen und ökonomischen Vernichtung dreht. Eine großartige Leistung, die Bewunderung weckt, selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht! Edward VII. ist nach seinem Tode noch stärker als ich, der ich lebe! Und da hat es Leute gegeben, die geglaubt haben, man könnte England gewinnen oder beruhigen, durch diese oder jene kleinen Maßregeln!!! Unablässig, unnachgiebig, hat er sein Ziel verfolgt, mit Noten, Feiertagsvorschlägen, scares, Haldane usw., bis es soweit war. Und wir sind ins Garn gelaufen und haben sogar das Einersystem im Schiffbau eingeführt in rührender Hoffnung, England damit zu beruhigen!!! Alle Warnungen, alle Bitten meinerseits sind nutzlos verhallt. Jetzt kommt der englische sogenannte Dank dafür! Aus dem Dilemma der Bundestreue gegen den ehrwürdigen alten Kaiser wird uns die Situation geschaffen, die England den erwünschten Vorwand gibt, uns zu vernichten, mit dem heuchlerischen Schein des Rechtes, nämlich Frankreich zu helfen wegen Aufrechterhaltung der berüchtigten Balance of Power in Europa, das heißt Ausspielung aller europäischen Staaten zu Englands Gunsten gegen uns.“

Sah der Kaiser die Rolle Englands korrekt? In Deutschland wurde die englische Kriegserklärung mit heller Empörung quittiert. Die Meinung, es hätte sich in den vorangehenden Jahren in erster Linie um die Bedrohung durch Russland und Frankreich gehandelt, schlug um. Auch viele Politiker konnten, wenn sie an die problemlosen Beziehungen zu England in den letzten beiden Jahren dachten, nicht begreifen, was London zu dieser Entscheidung bewogen haben könnte. Alte Ressentiments brachen wieder durch. Großbritannien wurde in der Rolle des durchtriebenen, überaus geschickten, heuchlerischen Kriegstreibers gesehen, der sich im Hintergrund hielt und jetzt Russland als seien „Festlandsdegen“ benützte. Alles, was sich noch kurz vorher an scheinbarer Harmonie zwischen Deutschland und England eingependelt hatte, erschien jetzt als Wortbruch und Verrat. Fast über Nacht wurde Großbritannien zum eigentlichen Feind. Kein Schlagwort der
Propaganda während des Krieges wurde so bekannt und war so ernst gemeint wie die Parole „Gott strafe England!“ aus dem „Hassgesang gegen England“ des Schriftstellers Ernst Lissauer von 1914.

An den Vorwürfen, die gegen England erhoben wurden, war sicherlich so viel richtig, dass Petersburg schwerlich zu einer forschen Gangart in der Lage gewesen wäre, wenn Zweifel an der Assistenz Englands bestanden hätten. Ob England auch einen Krieg derartigen Ausmaßes bedacht hatte, dürfte bei aller Kriegsbereitschaft einzelner Kabinettsmitglieder unwahrscheinlich sein. Exakt hier offenbart sich freilich das ganze Ausmaß an Leichtfertigkeit, die zu den Politikern jener Jahre gehört und für die Greys Überzeugungen stehen dürfen. In seiner Rede vor dem Unterhaus am 3. August 1914 hatte er wörtlich erklärt: „Wenn wir uns am Krieg beteiligen, werden wir kaum mehr leiden, als wir leiden müssten, wenn wir abseits blieben.“ Das war noch immer ein Ausdruck jener Haltung, die der gesamten britischen Planung des Krieges gegen Deutschland vor 1914 zugrunde lag und die sich in der Erwartung konzentrierte, er würde nichts anderes sein als „business as usual“ – und dies so ausgeprägt, dass heute in der britischen Geschichtswissenschaft als grundlegend für jene Epoche von einer ganzen „strategy of business as usual“ gesprochen wird. Churchill hatte es am 9. November 1914 auf dem Lord-Mayors-Festessen in der Londoner Guildhall als Grundsatz des britischen Volkes verkündet: „Das Geschäft geht ruhig weiter.“

Petersburg war willens, einen „großen Krieg“ auf sich zu nehmen, und seine Minister wussten dank der Erfahrungen aus dem Konflikt mit Japan, was das konkret bedeuten würde. Wäre das anders gewesen, so hätte der russische General Daniloff schwerlich im März 1914 in einer berühmt gewordenen Denkschrift nicht nur seine volle Zufriedenheit über den Rüstungsstand seines Landes ausgedrückt, sondern er hätte ebenso wenig in aller Öffentlichkeit die Aussichten eines bevorstehenden europäischen Krieges erörtert und seine Gewissheit unterstrichen, dass England in einem Ernstfall gemeinsame Sache mit Frankreich und Russland machen würde. Oberst House, der wichtigste Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, teilte nach einem Informationsgespräch mit dem britischen Außenminister am 29. Mai 1914 dem Weißen Haus mit:

„Sobald England einverstanden ist, werden Frankreich und Russland über Deutschland und Österreich herfallen.“

War also England mit seiner Beteiligung an diesem Krieg einverstanden? Und wer konnte stellvertretend für England gelten: Außenminister Grey, Premierminister Asquith und mit ihm das Kabinett, König Georg V.? Es dürfte feststehen, dass England, wenn man Sir Edward Grey als verantwortlich für die außenpolitischen Entscheidungen und damit als repräsentativ ansieht, keineswegs darauf drängte, in jenem Sommer 1914 in den Krieg einzutreten. Ebenso sicher ist aber auch die Entschlossenheit Englands, auf jeden Fall den beiden Mächten Frankreich und Russland beizuspringen, falls sie in einen militärischen Konflikt mit Deutschland und Österreich gerieten – gleichgültig, aus welchen Gründen sich beide Staaten zu einem Krieg entscheiden würden. Zwei Mitglieder der britischen Regierung traten zurück, weil sie es ablehnten, für die Kriegserklärung Englands zu stimmen: John Burns, der bekannte Arbeiterführer, von 1905 bis 1914 Innenminister, bei Kriegsausbruch Handelsminister, und John Morley, der Lordpräsident des Geheimen Rats. Burns erklärte nach dem Krieg, dass sich das britische Kabinett eindeutig für den Krieg gegen Deutschland entschieden hätte, noch bevor die Verletzung der belgischen Neutralität überhaupt aktuell war. Burns Erklärung wurde von Viscount Morley in seinem Bericht über seinen Rücktritt, den er 1928 als „Memorandum on Resignation“ veröffentlichte, bestätigt.

 Deutschlands Fehler

War die Verletzung der belgischen Neutralität für England mehr als der vom Kabinett dankbar begrüßte Vorwand, in den Krieg gegen Deutschland einzutreten? Grey hatte dem französischen Botschafter schon vor dem Einmarsch in Belgien versichert, England werde sich an die Seite Russlands und Frankreichs stellen. Das Deutsche Reich hatte schließlich ausdrücklich angeboten, Belgiens Neutralität nicht anzutasten, falls England seinerseits Neutralität zusichere. Doch Grey lehnte jede verbindliche Antwort ab.

Die größten Fehler und Missgriffe, die sich Berlin in dieser Krise zuschulden kommen ließ, waren die Kriegserklärung an Russland, die voreilig abgegeben wurde, und der Einmarsch in Belgien. Militärisch mochte aufgrund des Schlieffenplans, der zum Dogma einer Garantie des militärischen Sieges über Frankreich geworden war und damit die Basis des deutschen Aufmarsches unerschütterlich festlegte, der Bruch der belgischen Neutralität unumgänglich gewesen sein. Politisch jedoch bedeutete dies eine Katastrophe, weil England dadurch jene „hochmoralische Angelegenheit“ als Begründung für seinen Kriegseintritt in die Hand bekam, auf die Grey so sehr gewartet hatte.

Grey versicherte dem französischen Botschafter, er selbst sei zwar für eine sofortige Intervention Englands, aber das Kabinett und das Unterhaus benötigten den Bruch der belgischen Neutralität als handfesten Grund, um die Kriegserklärung Englands zu legitimieren. Die Empörung, als käme der deutsche Einmarsch völlig unerwartet und sei ein Vergehen ohne Beispiel in der Weltgeschichte, wirkte sich günstig auf die öffentliche Stimmung aus und konnte vorzüglich die Tatsache verdecken, dass der deutsche Plan seit 1906 den Generälen und Regierungen bekannt war und dass vor allem England gemeinsam mit Frankreich in den drei Jahren vor Ausbruch des Krieges Operationspläne entworfen hatten, die ebenfalls einen Durchmarsch französisch-englischer Truppen durch Belgien zur deutschen Grenze vorsahen. Der belgische König Albert I. (damals alleiniger Besitzer des „Kongo“) versicherte sogar 1914 noch einmal, dass er die Franzosen mehr fürchte als die Deutschen.

Das entschuldigt den deutschen Einmarsch nicht. Die Regierung in Berlin hat ihn auch niemals als rechtens angesehen und ihn etwa juristisch zu verteidigen versucht – aber er entfällt vollständig als Kriegsgrund bei der Suche nach den Verantwortlichkeiten für 1914. Die allgemeine Begeisterung vor dem düsteren Hintergrund tiefer Sorge, welche sich nach den Mobilmachungen bei den Völkern äußerte, wirkt heute noch kaum verständlich. Wir kennen die Bilder der blumengeschmückten Soldaten, die durchweg, bei Freund und Feind, davon überzeugt waren, sie würden das Weihnachtsfest 1914 als Sieger wieder in der Heimat feiern. So hatte auch Kaiser Wilhelm dem Berliner Regiment „Maikäfer“ beteuert: „Wenn die Blätter fallen, sind wir wieder bei Muttern.“

Sieht man von Russland und Serbien ab, so teilten nur wenige Politiker die überschäumende Stimmung. Der britische Premier ebenso wie Grey waren ergriffen vom Ernst der Situation, so lässig sie auch taktiert hatten. Der deutsche Kaiser war verstört und über England empört, Ministerpräsident Bethmann-Hollweg erregt, zornig, er konnte die Fassung kaum bewahren. Von dem Besuch des britischen Botschafters, der ihm das Ultimatum Londons überbrachte, schrieb er: „Mein Blut kochte ob der wiederholten hypokritischen Betonung der belgischen Neutralität, die es eben nicht war, was England zum Krieg trieb.“

Wirklich begeistert war Winston Churchill, mit ihm die sogenannte „Kriegsrotte“ der englischen Politiker, ebenso Sir Arthur Nicolson, der Unterstaatssekretär im Außenministerium und Greys rechte Hand. Nicolson war bis 1910 Botschafter in Petersburg gewesen und dann ins Außenministerium berufen worden – der beste Vertreter der russischen Sache, den sich Petersburg wünschen konnte. Der deutsche Botschafter in Russland wiederum wurde von seiner Erschütterung überwältigt. Als Graf Friedrich von Poutalès dem russischen Außenminister die deutsche Kriegserklärung überreichte, brach er zusammen.

SirWinstonLeonardSir Winston Leonard Spencer-Churchill
1874 – 1965, während des Burenkrieges

Literatur:

  • „Imperialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonialexpansion 1880 – 1914“, W. Baumgart, Wiesbaden, 1973
  • „Togo and the rise of Japanese Sea Power“, E. A. Falk, New York, 1936
  • „Die Schlafwandler“, Christopher Clark, Deutsche Verlags-Anstalt, 2013
  • „Die schicksalhafte Allianz. Frankreich und Russland am Vorabend des Ersten Weltkrieges“, George F. Kennan, Köln, 1990
  • „Pan-Slavism. Ist History and Ideology“, Hans Kohn, Notre Dame, 1953
  • „Helmuth von Moltke and the Origin of the First World War“, Annika Mombauer, Cambridge, 2001

Dr. Lothar Schimmelpfennig
im Juli 2013

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